Es gibt keine Kostenexplosion im Gesundheitswesen, dennoch droht den Krankenkassen ein Milliardendefizit. Pickelhering hat mit dem Politikwissenschaftler Nils Böhlke über die Ursachen des Defizits und eine sozial gerechte Alternative zur schwarz-gelben "Gesundheitsreform" gesprochen.

Pickelhering: Heute haben sich Union und FDP auf erste Details einer Gesundheitsreform geeinigt. Klar ist, dass die Versicherten tiefer in die Tasche greifen müssen. Was erwartet uns noch?
Nils Böhlke: Geeinigt hat sich die Koalition bisher auf eine Erhöhung des allgemeinen Beitragssatzes von 14,9 auf 15,5 Prozentpunkte. Durch den von Rot-Grün eingeführten Sonderbeitrag von 0,9 Prozent für Arbeitnehmer bedeutet dies, dass davon 7,3 Prozent Arbeitgeber- und 8,2 Prozent Arbeitnehmeranteil ist.

Auch die Höchstgrenze für Zusatzbeiträge soll angehoben werden. Der Streit innerhalb der Koalition dreht sich im Grunde genommen darum, ob angesichts des zu erwartenden 11 Milliarden-Defizit der Gesetzlichen Krankenversicherungen über diese Beitragssatzerhöhung hinaus nun ausschließlich bei den Leistungen gekürzt werden soll oder ob durch eine Kopfpauschale, in welcher Form auch immer, auch die Menschen die normal oder wenig verdienen zur Kasse gebeten werden sollen.

Nach wie vor plant der Gesundheitsminister Philip Rösler für die nächsten Jahre die Einführung einer Kopfpauschale. Ursprünglich hatte er vor, das gesamte System sofort umzustellen. Der gesellschaftliche Protest und die Angst vor einer Kampagne von Gewerkschaften, zivilgesellschaftlichen Akteuren und Parteien gegen die Kopfpauschale in einer Zeit, in der die Regierung ohnehin schon Schwierigkeiten hat, ihr Kürzungspaket durchzusetzen, haben ihn zunächst daran gehindert. Der Ausstieg aus dem Solidarsystem durch die Kopfpauschale ist aber noch lange nicht abgewendet.

Wen wird es besonders treffen?
Eine Erhöhung des Beitragssatzes und der Zusatzbeiträge trifft vor allem Arbeitnehmer und Arme. Bis zu einem gewissen Betrag, derzeit noch 8 Euro im Monat, darf ein Zusatzbeitrag ohne Berücksichtigung des Einkommens vom Versicherten verlangt werden. Dieser Betrag soll nun auf 12 oder 16 Euro erhöht werden.

Betroffen von den Plänen der Koalition sind auch Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte, denen eine Nullrunde bei den Budgets droht. Nachdem letztes Jahr durch den starken Protest der Beschäftigten in den Krankenhäusern eine Erhöhung der Budgets erkämpft worden ist, werden Nullrunden dazu führen, dass Beschäftigte entlassen werden und die Arbeitsbelastung noch weiter zunehmen wird, auf Kosten der Patienten.

Bei der Einführung einer Kopfpauschale werden Menschen entlastet, die ein hohes Einkommen beziehen und Menschen mit normalen Einkommen werden stark belastet. Da der Arbeitgeberanteil zur Krankenversicherung in diesem System zudem eingefroren werden soll, sind zudem die Unternehmen klarer Gewinner eines solchen Modells.

Woher kommt das Defizit der Krankenkassen?
Nach Angaben vieler Politiker und Wissenschaftler erleben wir eine "Kostenexplosion im Gesundheitswesen". Dies wird dann mit ständig steigenden totalen Ausgaben in diesem Sektor scheinbar belegt. Tatsächlich sind aber gemessen am erarbeiteten gesellschaftlichen Reichtum die Ausgaben für Gesundheit in den letzten Jahrzehnten quasi nicht gestiegen. In den letzten 20 Jahren lag der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt immer leicht über 10 Prozent. Wenn die Gesetzlichen Krankenkassen heute Defizite einfahren, ist dies also hauptsächlich auf Probleme auf der Einnahmeseite zurückzuführen.
Probleme bei den Ausgaben gibt es höchstens, weil insbesondere die Pharmaunternehmen, aber auch die privaten Krankenhausketten und Versicherungen hohe Renditen aus diesem System ziehen und dafür sorgen, dass die Versicherten mit ihren Beiträgen die Aktionäre dieser Unternehmen subventionieren.

Aber das eigentliche Problem sind die Einnahmen. Diese sind in Deutschland ausschließlich an die Löhne der Beschäftigten gekoppelt. Einnahmen beispielsweise aus Aktien oder Immobilien werden nicht berücksichtigt. Da ein immer größerer Teil des Volkseinkommens aus Gewinn- und nicht aus Lohneinkommen erzielt wird, geraten die Versicherungen unter finanziellen Druck, weil ihre Einkommensbasis wegbricht. Ein weiteres Problem ergibt sich aus der kürzlich erneut in einer Studie festgestellten zunehmenden Lohnspreizung in Kombination mit den so genannten Beitragsbemessungsgrenzen. Derzeit müssen nur Einkommen bis zu einem Höchstsatz von 3750 Euro den vollen Beitragssatz zahlen. Wenn ein Beschäftigter das doppelte dieses Höchstsatzes verdient, muss er dementsprechend nur noch den halben Beitragssatz bezahlen. Das führt dazu, dass mittlere Einkommen, von denen es immer weniger gibt, am stärksten belastet werden.

Eine einfache Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze würde aber noch gar nichts bringen, weil sich die Gut- und Bestverdiener ohnehin aus dem Solidarsystem ausklinken können, indem sie zu einer privaten Versicherung wechseln. Eigentlich müsste es jedem ersichtlich sein, dass ein Solidarsystem, in das die Reichen nicht einzahlen, nicht funktionieren kann.

Das dieses Problem nicht gelöst wird, hängt mit einem grundsätzlichem Widerspruch im Kapitalismus zusammen. Kapitalisten haben immer zwei sich widersprechenden Interessen an Gesundheitssystemen. Einerseits braucht es ein funktionierendes, effizientes Gesundheitssystem, um die möglichst schnelle Regeneration von Arbeitskraft zu gewährleisten, andererseits verursacht ein solches System Kosten, die jeder einzelne Unternehmer gerne umgehen würde.


Was ist denn die Alternative zum bestehenden System?
Da ein funktionierendes Gesundheitssystem natürlich auch im Interesse der Menschen ist, ist es Aufgabe einer linken Partei und anderer progressiver Organisationen, dafür zu sorgen, dass es die Unternehmer und Aktionäre nicht schaffen, sich um die Finanzierung des Gesundheitswesens herumzudrücken. Deshalb muss zunächst einmal dafür gekämpft werden, dass ein System etabliert wird, das tatsächlich alle Einkommensarten, also auch Gewinneinkommen, berücksichtigt. Eine solche Bürgerversicherung würde bedeuten, dass es keine private Versicherung für die Grundversorgung mehr geben dürfte, damit sich niemand aus dem Solidarsystem herausziehen kann.

Unter dieser Voraussetzung müssten auch die Beitragsbemessungsgrenzen wegfallen und die paritätische Finanzierung des Systems wiederhergestellt werden. Dies bedeutet auch, dass die vielen Zuzahlungen der Versicherten für Medikamente und für den Arztbesuch - die so genannte Praxisgebühr - wieder abgeschafft werden müssen. Gleichzeitig sollte die Forderung "Gesundheit ist keine Ware!" konkret bedeuten, dass keine Gewinne mit der Gesundheit der Menschen gemacht werden dürfen. Insbesondere im Kampf gegen die Privatisierung der Krankenhäuser wird ein "Häuserkampf" um jede einzelne Klinik letztlich nicht dazu führen, dass man erfolgreich ist. Stattdessen sollte die Forderung des Interessenverbandes kommunaler Kliniken übernommen werden, dass keine Gewinne aus den Kliniken herausgezogen werden dürfen. Dies würde alle privaten Krankenhausbetreiber dazu zwingen, ihr Engagement in diesem Bereich aufzugeben.

Und wie soll das durchgesetzt werden?
Wie alle Errungenschaften der Arbeiterbewegung können auch Erfolge im Gesundheitsbereich nur durch den gemeinsamen Kampf erzielt werden. Dafür lassen sich auch in diesem Bereich zahlreiche Beispiele finden. Im vorletzten Jahr reichte es, dass nur einmal 130.000 Beschäftigte in Berlin auf der Straße waren, um so viel Druck zu erzeugen, dass sich die Vorgängerin von Rösler, Ulla Schmidt, gezwungen sah, den Krankenhäuser 1,3 Milliarden Euro für Personalkosten zur Verfügung zu stellen.
In zahlreichen kommunalen Kliniken wie z.B. in Stuttgart oder an der Uniklinik in Düsseldorf konnte das Auslagern von bestimmten Bereichen durch kollektive Aktionen der Beschäftigten verhindert werden. Um aber eine grundlegende Veränderung zu erwirken, reicht es aber nicht, wenn sich nur lokal etwas tut, dafür ist eine bundesweite Kampagne notwendig. Die Kampagne der LINKEN, zahlreicher NGOs und der Gewerkschaften gegen die Kopfpauschale kann ein Anfang sein.

Zur Person:
Nils Böhlke ist Politikwissenschaftler und Mitglied im SprecherInnenrat der AG betrieb & gewerkschaft der nordrhein-westfälischen Linken. Er ist Mitherausgeber des Buches »Privatisierung von Krankenhäusern. Erfahrungen und Perspektiven aus Sicht der Beschäftigten«, VSA-Verlag, Hamburg 2009, 253 Seiten, 18,80 Euro (Inhalt und Leseprobe als PDF, 131 KB)

Zum Interview:
Pickelhering hat das Interview für www.marx21.de geführt. Das Interview kann kostenlos und ohne Rücksprache veröffentlicht werden unter folgenden Bedingungen: Unveränderte, ungekürzte Veröffentlichung. Autoren-/Quellenangabe: Frank Eßers / marx21.de
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