WM: "Nicht in meinem Namen"

 

Nils Böhlke erklärt, warum er Fußball liebt, aber sich keinesfalls Schwarz-Rot-Gold auf die Wange malt

Ich bin Fußballfan seit ich denken kann. Das erste Mal war ich im Alter von sieben Jahren im Stadion. Ich habe mich heiser geschrieen für den FC St. Pauli und mit den anderen Fans den Aufstieg gefeiert. Während der Weltmeisterschaft werde ich mir so viele Spiele wie möglich anschauen. Aber eins werde ich ganz sicher nicht tun: Mir Schwarz-Rot-Gold auf die Wange malen, eine Fahne schwenken und dabei »Deutschland, Deutschland« grölen.

Die Bild wird mich und andere, die ähnlich denken, als »Spaßbremse« und »Miesmacher« bepöbeln. Egal. Denn ich bin Überzeugungstäter: Ich bin überzeugt davon, dass der absehbare schwarz-rot-goldene Taumel im besten Falle eine Ablenkung ist, die unseren Herrschern gut in den Kram passt - und im schlechtesten Falle Kräfte der radikalen Rechten stärkt. Über »schwarz-rot-geil« (Bild) freuen sich die falschen Leute. So jubelte zum Beispiel die notorisch rechte CDU Hessen nach der WM 2006: »Die Fußballweltmeisterschaft in unserem Land hat den Umgang mit nationalen Symbolen wieder selbstverständlicher gemacht. Die Diktatur der Nationalsozialisten und die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs hatten das deutsche Nationalgefühl stark beschädigt. In den Jahrzehnten nach 1945 hatten wir Deutsche große Probleme, zu einem normalen Patriotismus zurückzufinden. Das scheint nun gelungen zu sein.« Gerhard Haslinger, Bezirkspolitiker der rechtsextremen FPÖ in Österreich, freute sich damals: »Eine herrliche Zeit! Man darf ungestraft zeigen, dass man auf seine Nation stolz ist und man darf öffentlich sein Land lieben. (...) Die gepredigte Vielfalt weicht der Nation, das Miteinander zerfällt zu Gegnern.« Auch Jürgen Gansel, Ideologe der NPD, freute sich über die Deutschlandfahnen: »Die Herrschenden in Politik und Kultur müssen feststellen, dass über 60 Jahre nach Kriegsende nationale Gemeinschaftssehnsüchte nicht länger unterdrückt und Nationalbewusstsein nicht mehr unter moralische Quarantäne gestellt werden kann.«

Nun will nicht jeder, der bei der WM einen Deutschlandwimpel schwenkt, die Wiederherstellung des Dritten Reichs in den Grenzen von 1936. Man kann sogar recht sicher davon ausgehen, dass das nur auf einen minimalen Teil der Deutschlandfans zutrifft. Tatsache ist jedoch: Die schwarz-rot-goldene Woge schafft eine Atmosphäre, in der sich die Rechte pudelwohl fühlt. Richtig hässlich wird es, wenn sich Patriotismus noch mit Spekulationen über einen feststehenden Nationalcharakter oder obskuren biologischen Annahmen paart. Vor der WM 2006 meinte Luis Fernando Suárez, Trainer des ecuadorianischen Teams, in einem Interview über die deutsche Mannschaft: »Die Deutschen spielen wie große Panzer, die alles, was sich ihnen in den Weg stellt, überrollen. Sie spielen realistisch, effizient. Sie sind Zerstörer, wie im Krieg.« Ähnlich äußerte sich Franz Beckenbauer, der wusste: »Wir Deutschen haben etwas im Blut, um das uns die ganze Welt beneidet. Wir geben nie auf.« Der ehemalige DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder variiert das völkische Motiv soziobiologisch, wenn er pseudowissenschaftlich analysiert: »Der südamerikanische und afrikanische Fußball haben genetisch andere Voraussetzungen.« Die Spielweise, durch gezielte Zerstörung der Offensivbemühungen der gegnerischen Mannschaft das Spiel zu gewinnen, wird oft als »deutsche Tugend« bezeichnet.Die Annahme, dass sich in einer Nationalmannschaft und ihrer Spielweise ein Nationalcharakter manifestiert, ist absurd. Denn so etwas wie »das Deutsche« gibt es nicht. Nationalismus - und damit auch die Annahme einer feststehenden »deutschen Nation« - ist das Produkt frühkapitalistischer Gesellschaften. Der Begriff in seiner heutigen Bedeutung ist erst im späten 18. Jahrhundert entstanden, wie der Historiker Benedict Anderson in seinem Buch »Die Erfindung der Nation« aufgezeigt hat. Das, was wir heute als Deutschland kennen, war noch im frühen 19. Jahrhundert ein Mosaik verschiedener Königreiche und Fürstentümer. Lange Zeit gab es keine einheitliche deutsche Sprache. Ein Bewohner Badens hätte sich nicht einmal mit einem Einwohner Mecklenburgs unterhalten können.

Nachdem die Nationalstaaten entstanden waren und mit ihnen der Nationalismus, wurden im Nachgang eine Nationalgeschichte und ein Nationalcharakter konstruiert, die nach Möglichkeit tausende von Jahren in die Vergangenheit zurückreichten. So wurde beispielsweise im 19. Jahrhundert der Germanenfürst Arminius, der 9 nach Christus die Römer in der Varusschlacht besiegt hatte, zu »Hermann«, dem Gründungsvater der Deutschen umgewidmet. Das soll der eigenen Nation historische Tiefe geben, ist aber ein unhistorisches Konstrukt.

Bislang ist jeder Versuch der Konservativen, in »Leitkulturdebatten« festzulegen, was deutsch ist, im Sande verlaufen. Die Leitkulturvertreter scheiterten schon daran, dass seit Jahren Pasta und Pizza die unangefochtenen Lieblingsessen der Deutschen sind, und nicht der Sauerbraten. Gesellschaften sind permanent im Fluss und im Wandel, Auffassungen ändern sich, erfolgreiche Bewegungen setzen oftmals auch einen Wandel in den Mentalitäten durch. Debatten wie die über die »deutschen Tugenden« der Nationalmannschaft und die Leitkultur verfolgen nur einen Zweck: eine Einteilung in »wir« und die »anderen«, in Deutsche und Nichtdeutsche.

Da hilft es auch wenig, dass mit Mesut Özil, Andreas Beck, Lukas Podolski, Miroslav Klose, Mario Gomez, Denis Aogo, Jerome Boateng, Serdar Tasci, Sami Khedira, Marco Marin, Piotr Trochowski und Cacau knapp die Hälfte der Nationalspieler einen Migrationshintergrund hat - im Gegenteil. Ihnen werden dann von der Boulevardpresse besonders »deutsche Tugenden« angedichtet: »Er singt die Nationalhymne lauthals mit, sein Spitzname ist ›Helmut‹. Die Rede ist von unserer WM-Hoffnung Cacau. Gebürtiger Brasilianer, der deutsch spricht, deutsch spielt und deutsch tickt. Cacau grinst: ›Ich war nie ein typischer Brasilianer. Ich kam nie 60 Minuten zu spät, sondern nur 20 Minuten. Meine ganze Mentalität ist deutsch‹«, berichtet die Bild. Was sie damit eigentlich sagen will: Der gemeine Brasilianer ist unpünktlich. Wie schnell aus solchen Klischees bösartige Anschuldigungen werden können, dürfen wir derzeit bei der Welle nationalistischer Hetze gegen die Griechen beobachten.

Warum das alles? Weil den Konservativen »das gebrochene Verhältnis der Deutschen zur Nation« ein Dorn im Auge ist.  Das hat einen Grund: Die deutsche Gesellschaft ist tief gespalten. Die oberen fünf Prozent der Bevölkerung verfügen über 46 Prozent des Vermögens und die oberen zehn Prozent sogar über zwei Drittel. Allein das oberste Prozent besitzt über 23 Prozent des Reichtums in Deutschland. Gleichzeitig haben zwei Drittel der Bevölkerung nahezu kein eigenes Vermögen. Als Folge des Sozialabbaus der letzten Jahre öffnet sich die Schere immer weiter und immer schneller.

Die konservative Antwort darauf: Das große deutsche »Wir« beschwören, um die soziale Spaltung zu verkleistern. Der Spiegel brachte es im Jahr 2006 auf den Punkt: »Es ist tatsächlich eine Stimmung der Einheit, die Deutschland erfasst hat. (...) Für die Dauer eines Turniers interessieren sich Hartz-IV-Empfänger, Investmentbanker und Intellektuelle für dasselbe, im Jubel sind die Grenzen sozialer Herkunft verwischt.«

Die Süddeutsche Zeitung (SZ) zeigte in einer Reportage anschaulich, wie selbst Menschen, deren soziale Existenz völlig zerstört ist, das Nationalgefühl annehmen. Unter einer Brücke in München machte das Blatt obdachlose Fußballfans ausfindig: »›Wir haben oft genug vom Staat auf den Sack bekommen‹, sagt Indie, ›aber wir stehen trotzdem für Deutschland, weil wir hier geboren sind, weil das unser Vaterland ist.‹ Sein Feuerzeug hat die Farben Schwarz-Rot-Gold.« Die SZ wollte mit diesem Artikel die allumfassende Begeisterung dokumentieren. Doch eigentlich ist diese Geschichte sehr traurig. Indie bräuchte ein Dach über dem Kopf, eine Gesellschaft, die sich um ihre Schwächsten kümmert. Stattdessen bekommt er Schwarz-Rot-Gold. Und das kann man bekanntlich nicht essen.

Politik und Wirtschaft setzen ganz bewusst auf den »Patriotismuseffekt«. Im Vorfeld der WM 2006 ließen es sich 25 Konzerne 30 Millionen Euro kosten, um uns von Plakatwänden, aus Zeitungen und im Fernsehen immer wieder dieselbe Botschaft zu predigen: Du bist Deutschland! In ihrem Manifest appellieren die Initiatoren: »Behandle dein Land doch einfach wie einen guten Freund. Meckere nicht über ihn, sondern biete ihm deine Hilfe an.« Auch der ehemalige Kanzler Gerhard Schröder und die CDU unterstützten die Kampagne. Spiegel-Autor Matthias Matussek argumentierte ähnlich: »Umfragen zeigen ja, dass die Deutschen im Prinzip zu schmerzhaften Einschnitten bereit sind. Wenn es dann allerdings um die konkreten Maßnahmen geht, dann antworten die jeweiligen dann betroffenen Gruppen wiederum anders. Aber ich glaube, dass es ein Nationenzusammengehörigkeitsgefühl braucht, um gerade durch schwierige Zeiten zu kommen und zu sagen: Okay, das muss jetzt sein, diesen Einschnitt machen wir. Und da ist Patriotismus natürlich sehr tauglich.«

Diese Rolle hat Nationalismus seit jeher gespielt: eine zwischen Arm und Reich, zwischen Klassen gespaltene Gesellschaft unter dem Banner von »Volk« oder »Nation« zu vereinen, um dann für die Nation Opfer abzufordern. Anschaulich schildert das Henrik Müller, stellvertretender Redakteur des Manager-Magazins in seinem im Jahr 2006 erschienenen Buch »Wirtschaftsfaktor Patriotismus - Vaterlandsliebe in Zeiten der Globalisierung«. Er klagt: »Statt sich auf den ökonomischen Wettbewerb einzustellen und mitzuspielen, verlangen viele in Deutschland nach internationalen Lösungen: zum Beispiel nach einer Harmonisierung der Steuer- und Sozialsysteme innerhalb der EU, mit dem Ziel, den Standortwettbewerb zu begrenzen. Es liegt auf der Hand, welche Reformen in Deutschland anstehen: ein grundlegender Umbau der Sozialsysteme, die weitere Öffnung des Arbeitsmarkts und der Märkte für Dienstleistungen.«

Neidisch blickt der Journalist auf die erfolgreiche Konkurrenz: »Andere Länder haben es vorgemacht - in den 1980er Jahren die Niederlande, Großbritannien, die USA, Neuseeland, in den 1990er Jahren Schweden, Finnland, Dänemark; erst recht die vormals sozialistischen osteuropäischen Staaten. Sie alle haben sich in kollektiven Kraftakten auf die neuen Realitäten eingestellt, haben grundlegende Reformen durchgesetzt.«

Müller wirbt deshalb für die entsprechende Ideologie, um diesen »kollektiven Kraftakt« auch im Interesse der deutschen Konzerne durchzusetzen: »Das Bindemittel des Patriotismus - das Zugehörigkeitsgefühl zu dem und die Opferbereitschaft für das nationale Kollektiv - wird offenkundig benötigt als emotionaler Gegenpol zu einer ökonomischen Globalisierung.«
Auch Bild rüstet für den globalen Standortwettbewerb. In einem Kommentar anlässlich der für deutsche Athleten äußerst erfolgreichen Olympischen Winterspiele in Turin heißt es: »Deutschland, die klare Nummer 1 weltweit. (...) wir sehen, was wir erreichen können, wenn wir uns auf unsere Tugenden und Stärken besinnen. Tatkraft. Fleiß. Ehrgeiz. Teamgeist. Der Wille, anzupacken und nie aufzugeben. Das alles steckt in jedem von uns. (...) Jawohl, wir können's noch!«

Sie reden vom Weltmeistertitel und meinen den Exportweltmeister - eine Position, die errungen wurde auf dem Rücken von immer schärfer ausgebeuteten Beschäftigten. Dieses Spiel sollten Linke nicht mitmachen und auch während der WM über die wirklichen Probleme im Land reden. Und das ist nicht ein mögliches Ausscheiden in der Vorrunde, sondern Dinge wie zum Beispiel Schäubles Sparprogramm.

Die Bundesregierung wird den Windschatten der medialen Konzentration auf die WM zu nutzen wissen. Während wir auf den Ball gucken und die Arme zum Jubel heben, wird hinter unserem Rücken der Sozialstaat demontiert. Bereits im Umfeld der WM 2006 wurden Verschärfungen bei Hartz IV verabschiedet. Für Sparkommissar Schäuble ist auch diese WM ein Geschenk des Himmels, um seine Grausamkeiten mit einer schwarz-rot-goldenen Schleife zu versehen. Politiker, Manager und Medien werben für den angeblich »unverkrampften« Patriotismus, weil sie hoffen, hinter der Fassade des neuen »Wir-Gefühls« Politik gegen alle Menschen in Deutschland machen zu können - egal, ob sie Deutsche, Türken, Italiener oder Serben sind. Jedoch sollten weder Deutsche noch Ausländer der Regierung dabei helfen, indem sie das Bild ihrer Städte mit schwarz-rot-goldenen Fahnen prägen.

Zum Text:
Der obige Artikel ist im Magazin marx21, Heft 16, Sommer 2010 erschienen (online hier). Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von www.marx21.de

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